von Bruni Häcker
In einer Zeit, in der alles möglich war, die Technologien sich überschlugen, Urlaubsflieger den Himmel verdunkelten, der Schnee von den Gletschern schmolz, Arme immer ärmer wurden, geriet auch unser Planet in höchste Not – Habgier, Neid, Missgunst und Kriege bestimmten den Alltag. Dann gab es den Tag X, ab dem die Welt für lange Zeit still stand. Eine Pandemie hatte unseren Globus erfasst.
Die Menschen erstarrten und wurden in ihre Häuser verbannt, durften nur noch einkaufen oder zum Arzt oder vereinzelt spazieren gehen. Die Alten wurden weg gesperrt. Großeltern waren als Risikogruppe für die Kinder und Enkel nicht mehr greifbar. In den Schaltzentralen der Politik brach eine ungeahnte Hektik aus. Damit Schule und Kinder in Verbindung bleiben konnten, versuchte man rasch neue Wege zu gehen, um den Kindern ihre Hausaufgaben von den Schulen zu vermitteln. Väter und Mütter machten Homeoffice und die Phantasie vieler Menschen war erstaunlich erfinderisch was die Betreuung der Kinder betraf. Spazierwege ohne Spielplatz ist keine Traumvorstellung. Eine himmlische Ruhe setzte ein, die vielen Menschen Angst machte. Wie von einem unsichtbaren Dornenstrauch umfangen, lagen Städte, Ortschaften und Weiler da und atmeten hörbar, schwer an dieser Last. Der Himmel wurde blau, die Luft klar, die Gewässer sauber.
Die himmlischen Heerscharen konnten sich auf das Geschehene keinen Reim machen. Obgleich der Himmel so blau und die Ruhe so wohltuend war, hatten sie Fragen. Der Engel ohne Namen rief nach Gabriel, der von einer himmlischen Konferenz kam. „Was ist passiert Gabriel? Weißt du etwas?“ „Nein ihr Lieben, ich weiß nur, dass eine Pandemie die Welt lahm gelegt hat“. Der kleine Engel Philipp kroch erschrocken zu Gabriel und hielt sich am Engelsgewand fest. „Kriegen wir das auch?“ fragte er ängstlich. „Nein Philipp, mache dir keine Sorgen, wir werden auf die Erde schauen nicht aber Boten dahin schicken“. „Ach das fehlte uns gerade noch“, ächzten drei ängstliche Engel im Hintergrund. Gabriel verteilte Fernrohre, die Engel auf unterschiedlichste Orte, Häuser und Menschen richteten. Der Engel ohne Namen hatte sich ein älteres Haus mit vier Stockwerken und Balkonen zum Hinterhof einer großen Stadt ausgesucht.
Die Bewohner kannten sich und hatten erst vor einem Jahr eine kleine Hinterhofidylle geschaffen. Blumenkübel, Sitzgelegenheiten und ein Sandkasten für Memet und Ida, die Kleinsten der Bewohner, schöne Holzboxen, in denen die hässlichen Mülleimer versteckt sind. Das türkische Ehepaar Kelebek wohnt mit dem kleinen Sohn Memet im Erdgeschoss. Darüber wohnen Müllers mit Ida und Sophie, die schon in die Schule geht. Im dritten Stock lebt Frau Hägele, die älter und gehbehindert ist. Ganz oben der Musiker Lars Federmann.
Seit diese seltsame Ruhe eingekehrt war, dachten die Menschen plötzlich anders und begannen ganz ungewöhnliche Dinge zu tun. Sophie legte Frau Hägele selbst gemalte Bilder vor die Tür. Herr Kelebek kaufte für sie ein. Lars spielte mit seinem Cello im Flur oder auf dem Balkon. Frau Müller stellte für Frau Hägele Essen vor die Tür und dachte auch an den Cellospieler, der überhaupt keinen Kochdaumen hat. Lars legte Sophie Kindernoten vor die Tür und löste damit eine große Freude bei der ganzen Familie aus. Man lernte sich neu kennen und schätzen. Bei den Sonntagskonzerten auf dem Hinterhof hörte man neben klassischen Elementen, Kochdeckel und Töpfe, allerlei Pfeifen und Rasseln. Der Gesang klang eher nach einem undefinierbaren Klangteppich, der sogar ferner stehende Hausgemeinschaften animierte, dasselbe zu tun. Die Zeit war schwierig für Alle, aber sie endete an diesem Ort nicht in Verzweiflung. Die nahende Adventszeit, leider wieder mit festeren Regeln, machte den Menschen keine Angst mehr, auch wenn sie manchmal ungeduldig wurden.
Herr Müller holte bei seinem Vater vom Bauernhof eine große Tanne und stellte sie auf den Hof. Einfach so. So ein wenig Grün schadet nichts, dachte er sich. Die Adventszeit begann und als er eines Morgens aus dem Fenster schaute, hingen einige bunte Kugeln daran. Der Baum füllte sich mit den Wochen, ohne dass es abgesprochen war mit Deko, Glitzersternen und sogar einer Lichterkette. Frau Hägele schaute gerührt von ihrem Balkon und wollte die Christbaumspitze stiften. Das Spannende war, dass nie jemand sah und auch nicht wusste, wer wann den Christbaum schmückte.
Auch im Himmel wurde diese ungewöhnliche Gemeinschaftsarbeit neugierig verfolgt.Der Engel ohne Namen rief erneut Gabriel und sagte: „Gabriel ich bin so gerührt, was in dem Hinterhof, auf dem ich immer schaue, alles geschieht. Mir kommt es vor, wie wenn Engel am Werk sind, von denen ich nichts weiß. „Da magst du recht haben“, sagte Gabriel lächelnd. „Ich muss dich noch etwas fragen: „Was heißt eigentlich Corona“? „Die Gekrönte oder die Krone!“ “? „Wie“? schallte es aus allen Engelsecken. „Ja“, sagte Gabriel und sammelte die Fernrohre ein. Die Engel hatten genug gesehen. Trotz dieser Pandemie auf Erden, gingen sie hoffnungsvoll in die himmlischen Räume zurück.
Weihnachten feierten die Menschen wie sie es kannten. Dennoch war alles irgendwie anders, neu und inniger, wie in den vergangenen Jahren. Da rief der kleine Memet als er aus dem Fenster schaute so laut, dass die Familien des Hauses ebenfalls zum Fenster liefen und auf den Baum starrten. „Da Krone auf Baum, da guck!“ Tatsächlich auf der Baumspitze hing ein wunderschönes verziertes Krönchen? „Hast du das aufgehängt“? fragte Herr Müller seine Frau. „Nein“, sagte diese verwundert. Die Menschen schlossen die Fenster und sangen oder lasen die Weihnachtsgeschichte, aßen und packten Geschenke aus. Die Frage, wer das Krönchen auf den Baum gehängt hatte, wurde nie geklärt.
Mein Eindruck ist der, dass es in diesem Corona-Jahr viele Engel ohne Flügel auf der Erde gab, die das ganze Jahr unterwegs waren.