Die etwas andere Weihnachtsgeschichte – Christine in der Stadt der Türme

Bruni Häcker ©

Seltsame Zeiten hat unsere Welt durchzustehen. Pandemien, Flucht, Vertreibung, Krieg und Hunger. Jährlich zu Beginn der Adventszeit schickt uns Petrus Engel, um die Stimmung der Menschen einzufangen.

Christine, schon etwas ältlich, hat dieses Jahr den Auftrag und landet auf einem Turm, der einer überdimensionierten weißlichen Zuckerstange ähnelt, am Rande der ältesten Stadt im Lande.

„Davon hat man mir nichts gesagt. Hab ich mich verflogen? Ich dachte ich komme in altes Gemäuer? Unsere Navis taugen einfach nichts mehr“, brummelt Christine wütend und streicht ihr Engelsgewand zurecht. Sie steht auf einem Platon und blickt umher, besieht die alten Türme die sich in ihrem Blickfeld auftun.

Dort muss ich hin, denkt sie. Wie von Geisterhand öffnet sich eine Tür und eine dralle Endvierzigerin kommt laut gestikulierend heraus. „Da Hermann schau, so ein toller Ausblick. Das Haus von Tante Emma, man sieht es genau. Ich bin platt“. „Das ist selten antwortet ihr hinzu tretender Ehemann“. Sie schauen, verweilen, um dann mit dem Aufzug nach unten zu fahren. Christine geht mit ihnen. So schnell wie wenn sie allein geschwebt wäre, sind sie unten und durchschreiten die Glastüren nach draußen. Sie steigt in das Auto der Vielschwätzerin mit ein. Der geduldige Mann fährt in die alte Stadt. Am Friedrichsplatz steigen sie aus und  Christine hört die Frau sagen: „Hast du die Heizung so aufgedreht mir war so warm im Auto“? „Nicht mehr als sonst“, antwortet er.

Christine flattert zu einem großen Gotteshaus und setzt sich genüsslich auf die Kanzel. Im neuen Glanz erstrahlt das Münster, seit es renoviert wurde. Petrus hatte ihr uralte Bilder gezeigt. Da sah das Münster noch ganz anders aus. Eine alte Dame kommt in die Kirche, entzündet eine Kerze für ihren verstorbenen Otto. Sie glaubt an Engel und sieht die Lichtgestalt auf der Kanzel sitzen und ruft: „Otto bist du das? Du wirst mich doch nicht etwa jetzt holen wollen, ich muss doch Brötle backen für die Jungen“? Christine erhebt sich, schwebt hinaus und lässt die alte Dame in ihren Gedanken zurück.

In der nächsten Kirche hängen friedlich dreinschauende Putten unter dem blauumwölkten gemalten Kirchenhimmel. Da fühlt sie sich wie zu Hause. Durch ein kleines Butzen – Turmfensterchen sieht sie in eine schmale Gasse und sieht ein Gesicht, das aus einem der kleinen Fensterchen der eng aneinander gelehnten Häuser schaut.

Dort fliegt sie hin, geht sie durch eine niedere Tür und kommt in einen holzvertäfelten Raum in dem ein uraltes, verwildertes Sofa steht. Daneben ein Ohrensessel und eine Glasvitrine mit trüben Fenstern und ein wuchtiger Esstisch mit Stühlen. Die kleine zerbrechliche Person dreht sich vom Fenster um und erschrickt. Sie schreit: „So ein Licht hatte ich noch nie in der Wohnung. Was ist denn los“? Kurzatmig lässt sie sich auf ihren Sessel plumpsen. Nichts passiert. Stille. Die Engelsgestalt sitzt auf dem Sofa. Langsam dreht die Frau ihren Kopf und sieht sie. Christine fragt: „Darf ich ein wenig sitzen bleiben“? „Aber gern“, sagt die alte Frau, wenig überrascht. „Ich bin Christine von den himmlischen Heerscharen und schaue mich ein wenig in eurer alten Stadt um. Wie geht es dir“? „Ich kann mich nicht beklagen“, sagt Helene Kraus.  Essen und eine warme Wohnung habe ich. Mir fehlen meine alte Freunde, die nach und nach weg sterben, die Spazierwege, die Fasnet und Binokel. Menschen die mir zu hören“. „Hast du keine Familie“? „Doch, aber die haben ihre eignen Sorgen. Sie kaufen für mich ein, haben aber sonst keine Zeit“. „Ich gehe jetzt weiter liebe Helene, du bist nicht allein, glaube mir“, sagt Christine, streicht der alten Frau über den Kopf und verschwindet.

Durch enge Gassen irrt Christine umher. Essensduft steigt in ihre Nase und lautes Reden von Männern, die vor der Tür eines Wirtshauses stehen und das bestellte Essen abholen wollen. Die Diskussion dreht sich um die Pandemie, verbissene Blicke und wüstes Argumentieren Dazwischen das Winseln eines kleinen Hundes. „Ach Würfelzucker bettelt wieder“, sagt einer der Männer zu den Anderen.  Würfelzucker ist ein Streuner und hat gelernt da zu sein, wo es was zu beißen gibt. Warum er Würfelzucker heißt, weiß niemand. Dieser kleine Hund spürt Christine, geht zu ihr hin und spricht sie an: „Hallo du helle Frau, was für ein Hundeleben. Tag aus und Tag ein muss ich betteln, damit ich nicht verhungere“ .Der Hund wedelt mit dem Schwanz und geht mit ihr. Er hat gute Ortskenntnisse und berichtet Christine, dass er aus dem Auto geworfen wurde und gar nicht von hier ist. Die Beiden gehen in Richtung Schwarzes Tor. Dort steht ein breitschultriger Mann mit einem Umhang, einer Gitarre und singt ein Lied. Wie er den Hund bemerkt, hört er auf, krault ihm hinter dem Ohr und sagt: „Ich bin wie du auf den Hund gekommen. Jetzt lebe ich von der Stütze, mache Ehrenamt um nicht zu verkommen. Singe Abendlieder obwohl ich heulen möchte“. „Also weißt du helle Frau, kannst du jetzt nichts sagen, ihn trösten?“ bellt das kleine Tier zu Christine. „Ich“, Christine dreht sich verdattert um und schwebt durch die Tür des Schwarzen Tores. Seltsamerweise sind Würfelzucker und der Mann dabei und wundern sich überhaupt nicht. Sie gehen die steilen quietschenden Stufen hoch. Der Mann setzt sich auf einen uralten Stuhl, ächzt müde, stützt sich mit seiner Hand auf den Tisch. „Ach Würfelzucker, ich bin so unendlich traurig. Die Pandemie hat meinen Job geklaut. Zuhause sitzen Frau und Kinder und ich konnte nicht einmal Weihnachtsgeschenke kaufen“. „O wie schrecklich“; sagt Würfelzucker und schnieft. Dem Mann fällt nicht auf, dass der Hund mit Engelszungen spricht. „Was könnte dir denn helfen Kurt“? fragt Christine alias Würfelzucker. „Ach wenn wir nur einen Christbaum hätten“.

 

„Magst du nicht einsame Menschen mit deinen Liedern erfreuen“? fragt sie ihn. „Ja gerne“, sagt er. “Dann komm“. Die Drei steigen die steilen Treppen hinunter und begeben sich in die Gasse, in der Helene wohnt. Kurt nimmt seine Gitarre und lässt seine sonore Stimme in der Nacht erklingen. Würfelzucker jault, Christine strahlt vor Freude. Überall öffnen sich Fenster. Helene klatscht und ruft: „Wartet, ich komme runter“. Einige Menschen stehen mittlerweile auf der Straße, bieten Gebäck, Tee oder Glühwein an, holen Klappstühle oder singen mit.

Sepp der vom Baum schlagen kommt ruft in die Menge: „Braucht noch jemand ein Bäumchen? Ich habe in der Scheune welche, die ich nicht verkaufen kann“. „O ja ich“, ruft Kurt und streckt seinen Finger hoch wie ein Schüler. In diesem Moment beschließt Würfelzucker bei Helene einzuziehen. Ihre Augen glänzen vor Glück. Kurt schultert seinen Baum und geht wie auf Watte nachhause. Das war alles irgendwie nicht wirklich, denkt er vor sich hin.

Christine setzt sich im Boxhof auf die Mauer, lächelt zufrieden und tritt ihre Heimreise an. Selbstvergessen redet sie mit sich selber, wie sie nochmals die Zuckerstange umkreist.

 „Selbst die dunkelste Zeit – zaubert kleine Wunder.

Weihnachten kann kommen.

Ich bin dann mal weg“.

 

Fotos und Grafik:  Bruni Häcker  Ergänzende Bilder: Stefan Drobny

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